Die Neue Spinnerei, Wangen

Wohnen & Arbeiten im Industriedenkmal

Die Baumwollspinnerei Erlangen-Bamberg, kurz ERBA, unterhielt in Süddeutschland zahlreiche Betriebsstätten; eine davon ist die „Neue Spinnerei“ in Wangen. Mit Blick auf die Landesgartenschau 2024 wurde das Baudenkmal in den vergangenen Jahren saniert und umgenutzt.

Dank der Rekonstruktion der großflächigen Industrieverglasungen mit dem Fenstersystem Janisol Arte 66 konnte der gestaltprägende Charakter des Gebäudes bewahrt werden – und dennoch entspricht es heutigen energetischen Anforderungen, ohne die die Umnutzung zu einem Wohn- und Geschäftshaus undenkbar wäre.

Historie des Bauwerks

Die denkmalgeschützte „Neue Spinnerei“ befindet sich auf dem einstigen ERBA-Gelände im Westen der Stadt Wangen im Allgäu. Das Gebäude ist Teil des Kulturdenkmals „Baumwollspinnerei Wangen“; seine Sanierung und Umnutzung zu einem Wohn- und Geschäftshaus erfolgen parallel zur Revitalisierung des gesamten Fabrikgeländes im Vorfeld der Landesgartenschau 2024. Doch das „neu“ bezieht sich keineswegs auf die jetzige Sanierung und Instandsetzung, sondern auf zwei Bauten von 1900 resp. 1908, die seinerzeit die „Alte Spinnerei“ erweiterten. Die Neue Spinnerei besteht aus einem zweigeschossigen Südbau aus dem Jahr 1900, dem daran angrenzenden dreigeschossigen Nordbau von 1908 sowie einer Aufstockung von 1957, mit der der Südbau höhenmäßig dem Nordbau angeglichen wurde. Nur wenige Jahre liegen zwischen dem Bauwerk von 1900 und dem von 1908, und doch ist es architektonisch ein Quantensprung: Während der Bau von 1900 sich gestalterisch der „Alten Spinnerei“ anpasst, wurde mit dem Erweiterungsbau von 1908 durch Philipp Jakob Manz, einem der führenden Industriearchitekten seiner Zeit, eine zeitgemäße Architektursprache auf dem Gelände eingeführt. Sie findet ihren Ausdruck in einer nahezu vollflächigen Befensterung der Fassaden. Möglich machte das die damals noch junge Stahl­skelettbauweise: Sie verkürzte nicht nur merklich die Bauzeiten (was Manz den Ruf eines „Blitzarchitekten“ einbrachte), sondern ermöglichte eben auch die äußerst großflächigen Fassadenöffnungen, die den Tageslichteinfall in den Spinnereisälen enorm erhöhten.

Bauzeitliche Industrieverglasungen

Die Eisen-Sprossenfenster des Baus von 1908 sind mit 42 (6 x 7) Feldern pro Fensterebene deutlich großflächiger als die Fenster des Baus von 1900 mit nur 24 (4 x 6) Sprossenfeldern. Jede Öffnung besaß ein Schwingfenster oben; jede zweite Achse war zudem mit zwei inneren und einem äußeren Öffnungsflügel ausgestattet, als Fluchtweg im Brandfall. An den westlichen und östlichen Seitenwänden sind je sechs, an der nördlichen Wand neun dieser außergewöhnlich großformatigen Kastenfenster eingelassen. Auch die insgesamt 19 Eisenfenster des Baus von 1900 hatten eine innere und eine äußere Fensterebene und waren fest verglast; aber bei ihnen waren lediglich zwei innenliegende Sprossenfelder als Drehflügel ausgebildet. Grundstückssituation und Planung ließen Raum für eine nochmalige Erweiterung an der Südfassade, doch so weit sollte es nie kommen: Die im wahrsten Sinne des Wortes „verwobene“ Unternehmensgeschichte der Erlangen-Bamberger Baumwollspinnerei meisterte Kriege, Wirtschaftskrisen mit Rohstoffknappheit und den Arbeitskräftemangel zuzeiten des Wirtschaftswunders. Doch gegen die zunehmende Verlagerung der Textilindustrie in Niedriglohnländer kam die ERBA nicht an – 1992 stellten Spinnerei und Weberei den Betrieb in Wangen ein. 2009 erwarb die Stadt Wangen das ERBA-­Gelände mitsamt der teils denkmalgeschützten Gebäude. Im Hinblick auf die Landesgartenschau 2024 soll es städtebaulich an die Altstadt angebunden werden, während die einzelnen Gebäude zur Sanierung weiterveräußert wurden.

Revitalisierung des Industriedenkmals

Den Zuschlag beim Weiterverkauf der Neuen Spinnerei erhielten Wilhelm und Wolfgang Forster: Vater Wilhelm brachte als Metallbaumeister und Gründer der Metallbaubetriebe Forster die fachliche Kompetenz für die Sanierung der zahlreichen Industrieverglasungen ein. Sohn Wolfgang übernahm die organisatorische Abwicklung des Bauvorhabens, unterstützt vom Architekten Max Wittmann, der zuvor als Geschäftsführer der Landesgartenschau 2006 in Marktredwitz fungierte. Ziel ist eine Mischnutzung aus Wohnen und Gewerbe: die Geschäftsstelle des Roten Kreuzes, eine Augenklinik, eine Zahnarztpraxis und eine Unternehmensberatung zählen zu den künftigen Nutzern. Dazu kommen Flächen für ein Shared Office, ein gastronomischer Betrieb und insgesamt 23 Eigentumswohnungen.

Industrieverglasung von damals

„Die Diskussion um die Instandsetzung der Fenster bestimmte das Sanierungsprojekt von Anfang an“, sagt Bauherr Wolfgang Forster. „Mit unserer Erfahrung als Metallbauer und der Begeisterung für das Projekt wollten wir die Industrieverglasungen, die das Gebäude charakterisieren, unbedingt beibehalten.“ Doch die wenigen öffenbaren Flügel waren ein großes Hindernis, da sie die natürliche Belüftung verhinderten, auch waren die originalen Kastenfenster praktisch nicht zu reinigen. Die Option der Erhaltung wurde für jedes einzelne Fenster geprüft, konnte jedoch schon allein aus energetischen Gründen nur in ganz bestimmten Bereichen realisiert werden. Beispielsweise im künftig gastronomisch genutzten Bereich des Erdgeschosses, wo rauminnenseitig eine Isolierglasscheibe vor die restaurierte Sprossenkonstruktion gesetzt wurde; oder aber im Treppenhaus, wo die energetischen Anforderungen niedriger sind als in den Wohn- und Geschäftsräumen. Für alle anderen Bereiche wurde schließlich in enger Abstimmung mit dem Denkmalamt eine zeitgemäße Lösung entwickelt: Ein Verbundfenster mit einer Glasteilung zwischen der äußeren und der mittleren Isolierglasscheibe der dreifach verglasten Konstruktionen – ein Musterfenster aus dem Stahlprofilsystem Janisol Arte 2.0 hatte die erforderliche Entscheidungssicherheit herbeigeführt. Die über 100 Fenster und Festverglasungen wurden schließlich jedoch aus dem neueren Sprossensystem Janisol Arte 66 mit einer Bautiefe von nur 66 Millimetern gefertigt.

„Das Einzige, das bei den neuen Fenstern etwas stärker aufträgt, ist die Anschlagdichtung der Öffnungsflügel“, erläutert Wolfgang Forster; „ansonsten sind die neuen Fenster tatsächlich so schlank wie die Industrieverglasungen von damals.“ Zur Absturzsicherung sind die Fenster in ihrem unteren Bereich nicht öffenbar. Es versteht sich von selbst, dass auch der Korbbogen der 120 Zentimeter resp. 170 Zentimeter breiten und in ihrem Scheitel 350 Zentimeter hohen Verglasungen nachgebildet wurde. In einigen Wohnungen, in denen die Decken abgehängt wurden, ist der Bereich um die Fenster herum ausgespart. Allerdings befindet sich nur ein kleiner Teil der Wohnungen in den historischen Gebäudeteilen von 1900 und 1908. Der weitaus größere Teil wurde auf dem Flachdach des Südbaus von 1900 realisiert, nachdem man die denkmalpflegerisch unbedeutende Aufstockung von 1957 teilweise rückgebaut hatte. Auf der so entstandenen Grundfläche von 37 x 37 Metern wurden innerhalb der bestehenden statischen Konstruktion dreiseitig Wohnungen als „Haus-im-Haus“-Konzept errichtet: sie werden über einen nach oben offenen Innenhof erschlossen, der die natürliche Belichtung und Belüftung sichert. Alle Wohnungen verfügen zudem über vorgelagerte Dachterrassen, die sich mit raumhohen Hebe-Schiebtüren aus dem Aluminiumsystem ASS 70 HI von Schüco zum Wohnraum hin öffnen lassen. Bereits lange vor der Fertigstellung waren die attraktiven Neubauwohnungen vergeben; inzwischen sind sie, wie auch ein Teil der Gewerbeeinheiten, bereits bezogen. Zum Frühling 2022, so der Zeitplan, soll die Sanierung der Neuen Spinnerei abgeschlossen sein.

Ausblick

Bis das gesamte Gelände zur Landesgartenschau 2024 durchsaniert ist, wird noch einige Zeit vergehen. Doch jetzt schon lässt sich feststellen, dass durch den rücksichtsvollen Umgang mit dem Bestand, der Gebäudestruktur und den gestaltprägenden Elementen der Charakter der Neuen Spinnerei erhalten wurde. So trägt sie ihren Teil bei zu dem gemischt genutzten Quartier, das das Gelände der Landesgartenschau 2024 architektonisch prägen wird. Der Wandel von der Industriebrache zu einem neuen Stadtviertel ist auf dem besten Weg.

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