Zum Einsturz der Ponte Morandi

Dr.-Ing. Dirk Proske – Axpo Power

„Bei ca. 10% aller Brückeneinstürze rollt der Verkehr.“

Die Regelwerke für den Brückenbau sind für EU-Länder weitestgehend harmonisiert, einheitliche technische Standards gesetzt. Unterschiede gibt es sicher in der Verwaltung der Auftragsvergabe, in der Überwachung der Baustellen und im Prozedere der Bauwerksüberprüfung. Vier Statements zur Tragödie in Genua: Dr.-Ing. Dirk Proske, Dipl.-Ing. Stefan Materna, Prof. Manfred Curbach und Dr.-Ing. Heinrich Bökamp, Präsident der Ingenieurkammer-Bau NRW.

Dr.-Ing. habil. Dirk Proske hat an der Technischen Universität Dresden zum Thema Risikobeurteilung von alten Brücken promoviert und auf dem Brückensymposium dieses Jahr in Dresden unter der Überschrift "Versagenshäufigkeit und Versagenswahrscheinlichkeit von Brücken" einen Vortrag gehalten. Derzeit ist er für das Schweizer Unternehmen Axpo tätig, zum Herbst wechselt er an die Berner Fachhochschule Burgdorf.


metallbau: Wie häufig kommen Brückeneinstürze vor?

Dr.-Ing. Dirk Proske: Brückeneinstürze sind bezogen auf die Anzahl aller Brücken sehr selten, treten aber regelmäßig auf, meistens in Verbindung mit Überflutungen oder Anprallen. Bei den Überflutungen durch den Tsunami 2011 wurden in Japan über 300 Brücken zerstört, auch die schweren Überflutungen im Frühjahr 2011 im mittleren Westen der USA zerstörten über 100 Brücken. In Deutschland wurden beim schweren Hochwasser 2002 Hunderte Brücken beschädigt, eine Eisenbahnbrücke bei Riesa oder die Pöppelmannbrücke in Grimma wurden zerstört. Auch Einstürze beim Bau der Brücken treten regelmäßig auf, z.B. 2016 bei Schraudenbach in Bayern, 2015 in Fronleiten in Österreich, im Januar 2018 in Kolumbien oder erst im März 2018 in Florida kurz vor der Freigabe.

metallbau: Wie häufig stürzen Brücken ein, auf denen der Verkehr rollt?

Proske: Einstürze unter Verkehr machen nur einen Bruchteil aller Einstürze aus, in der Regel ca. zehn Prozent. Insofern sind zahlreiche Brückeneinstürze in den letzten Jahren in Italien unter Verkehr, z.B. Anfang März 2017 oder Ende Oktober 2016, bedenklich. Ob es sich um einen Anstieg der Häufigkeit der Brückeneinstürze handelt, kann man mit den vorliegenden Zahlen aber nicht sagen. Nach dem Brückeneinsturz der Interstate 35W-Mississippi Brücke 2007 in Minneapolis gab es in den USA die Diskussion, ob die Häufigkeit der Brückeneinstürze stieg. Dies konnte nicht belegt werden. Die letzten Zahlen von 2013 zeigen, dass die Brückeneinsturzhäufigkeit in den USA die niedrigsten jemals beobachteten Werte erreichte.

Im Augenblick wird sehr viel über die Stahl- und Spannbetonbrücken der 1960er und 1970er Jahre geschimpft. Tatsächlich aber stürzen Massivbrücken signifikant seltener ein als Stahlbrücken, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Massivbrücken auf Grund ihres hohen Eigengewichtes robuster unter Hochwasser und Anprall sind als Stahlbrücken.

metallbau: Können Sie sich ein ähnliches Schadensereignis wie in Genua an einer Brücke in Deutschland vorstellen?

Proske: Es gibt durchaus Brücken in Deutschland, die das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben und auch für übliche Verkehrslasten laufend überwacht werden müssen. Ich gehe aber davon aus, dass diese Überwachung in guten Händen liegt. Menschliche Fehler können natürlich immer auftreten, aber ich gehe nicht von so einem Schadensereignis aus.
Wir hatten in Deutschland 1998 die Katastrophe von Eschede, bei der in Verbindung mit einem Zuganprall eine Brücke einstürzte und zu über 100 Todesopfern führte. Dieser Einsturz ist typischer für Brückeneinstürze, als der jetzt in Italien, da eine außergewöhnliche Einwirkung ausschlaggebend war. Brückeneinstürze mit Anprallen treten immer wieder auf, sei es durch ein Verkehrsmittel oder Muren, wie in China 1981, als eine Zugbrücke hinter einem Tunnel unter einem Murenanprall versagte und ca. 200 Todesopfer forderte. Sie können nicht vollständig ausgeschlossen werden. Bei Überflutungen werden die Brücken meistens vorher gesperrt, menschliche Opfer gibt es kaum.

metallbau: In welchem Zustand befindet sich aus Ihrer Sicht der Brückenbau in Deutschland? Wo sind die Schwachpunkte hierzulande?

Proske: Mit dem Zustand der Brücken in Deutschland haben sich verschiedene Journalisten in den letzten Jahren ausführlich befasst, z.B. Nagel et al. in „Die Welt“ im Jahr 2016. Nicht nur dort wurde auf verschiedene Problembrücken hingewiesen. Die Brücken in Deutschland unterliegen verschiedenen Trägern: Kommunen, Bundesländer, Bund und Bahn. Alle diese Träger verwalten ihren Brückenbestand und kennen heute eigentlich ihre Problembrücken. Die Brücken des Bundes und der Länder sind in der Regel in gutem Zustand oder gut überwacht. Einige Brücken stehen tatsächlich unter Dauerbeobachtung. Sorgenkinder gibt es auch bei kommunalen Brücken oder bei städtischen Bahngesellschaften. Das Problem sind aber nicht nur die Brücken, sondern die gesamte Infrastruktur. Das durchschnittliche Alter der Infrastruktur in Deutschland steigt unübersehbar seit den großen Bauprojekten nach der Wiedervereinigung. Insofern erreicht tatsächlich eine steigende Anzahl von Brücken ihre planmäßige Lebensdauer und wird darüber hinaus genutzt.

metallbau: 2.500 Brücken sollen in Deutschland mit „hoher Priorität“ saniert werden, in welchem Zeitfenster sollte so eine wichtige Sanierung abgeschlossen werden?

Proske: Wie bereits gesagt, es gibt Brücken, die praktisch unter Dauerbeobachtung stehen. Man könnte sagen, eine Art Intensivstation für Brücken. Solche Brücken sollten zeitnah saniert, sofern möglich, oder ersetzt werden. Allerdings ist das Verwaltungs- und Bauplanungsrecht in Deutschland nicht unbedingt hilfreich, solche Ersatzneubauten schnell umzusetzen. Selbst bei Ersatzneubauten wird häufig eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig, gegen die dann wieder Einspruch erhoben werden kann.

metallbau: Welche Konsequenzen wird Ihrer Ansicht nach der Vorfall in Genua haben?

Proske: Der Vorfall wird positive finanzielle Auswirkungen auf den Brückenbau bzw. die Brückenerhaltung haben, da Katastrophen nachweisbar die Freigabe und Verteilung von Geldern durch die Politik beeinflussen. Insofern kann diese Tragödie noch positive Entwicklungen anstoßen.

metallbau: Was halten Sie davon, dass laut BMVI künftig die Prüfung von Tragfähigkeit gegenüber der Anzahl von Schlaglöchern den Vorrang haben soll?

Proske: Aus Sicht der Risikobewertung kann ich solche Entscheidungen nicht gutheißen. Man muss die Konsequenzen des Versagens beider Systeme, des Tragwerks und des Straßenbelags vergleichen und dann entscheiden. Um abzuwägen, müssen wir wissen, ob Straßenverkehrsunfälle mit Todesfolge durch Schlaglöcher entstehen oder ob Schlaglöcher zu Dichtungsschäden an Brücken führen und damit langfristig zu Schäden am Tragwerk. Die Wahl und Nennung nur eines Schadensparameters, in unserem Fall der Todesopfer und der Kosten des Einsturzes von Genua, ist nicht ausreichend. Diese Vorgehensweise ist aber leider in der Politik häufig anzutreffen, da andere Bewertungsmaßstäbe von Bedeutung sind.

metallbau: Gehen Sie davon aus, dass es bedingt durch den Vorfall in Genua mehr Ausschreibungen für den Brückenbau und die Modernisierung von Brücken gibt?

Proske: Solange die Ursache des Einsturzes nicht bekannt ist, sollte man die Verfahren nicht ändern. Voraussichtlich wird die Politik aber mit mehr finanziellen Ressourcen reagieren, sodass die Zahl der Ausschreibungen steigen wird. Ähnliche Entwicklungen haben wir ja auch nach den großen Hochwassern gesehen.

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