„The Crystal“ in London

Trapeze und Parallelogramme als Fenster

Im Osten von London liegt der polygone Bau wie ein Kristall am Wasser der Royal Victoria Docks. Die Pläne des Gebäudes stammen vom Architekturbüro Wilkinson Eyre, das seinen Sitz ebenfalls in der britischen Metropole hat. Die Bauweise mit Parallel-Ausstellfenstern in einer Vielzahl verschiedener Formen – von Trapezen über Parallelogramme bis hin zu Rechtecken – stellte spezielle Anforderungen an die Konstruktion. Sowohl Rahmenprofile als auch Flügel mussten für diese seltenen Fenstergeometrien modifiziert werden. „Alle Systemteile mit den jeweiligen Beschlagelementen sind speziell für jedes Fenster maschinell gefertigt worden“, berichtet Wolfgang Römer, der den Bereich Glastechnik bei Waagner-Biro Stahlbau leitet. Die Projektsteuerung war im Hauptquartier des österreichischen Spezialisten für komplexe Gebäudehüllen in Wien angesiedelt, darüber hinaus war sein Büro in London – insbesondere im Bereich der Montage stark in den Auftrag mit eingebunden.

Internationales Projektmanagement

Wie inzwischen viele europäische Bauprojekte wurde das Objekt international gemanagt: Hauptauftragnehmer war also Waagner-Biro Stahlbau in Wien. Die Scheiben der Flügel wurden in Deutschland gefertigt, die Paneelfüllungen in Österreich. Gretsch-Unitas (GU) in Ditzingen entwickelte die Beschläge als Sonderlösung. Die Fertigung der Fensterelemente mit der Installation der Beschläge, Motoren und einer Kabelbox führte ein Fensterbauer (Firmierung soll anonym bleiben) in Ungarn aus. Römer betont: „Bevor die Fenster auf die Baustelle geliefert wurden, haben die Funktionen der Flügel eine Qualitätssicherung durchlaufen. Die Parameter des Tests hatten wir vorgegeben.“ Der österreichische Metallbauer hatte für eine strenge Überwachung bei den produzierenden Subunternehmen gesorgt.


Verzahnte Zusammenarbeit

„Als Hersteller der Sonderbeschläge waren wir Vertragspartner vom Systemhaus und haben uns in erster Linie mit Sapa Building in Österreich abgestimmt“, sagt Marco Zannini, der bei GU für die Abteilung Entwicklung und Technik Sonderkonstruktionen zuständig ist. Die Sonderkonstruktion der Aluminiumprofile wurde via E-Mail abgesprochen. Auf diese Weise konnten Vorschläge und Kommentare kurzfristig ausgetauscht werden.
Ein Fensterelement wurde für die Dauerfunktionsprüfung definiert und im Prüfzentrum bei GU getestet. So wurde der Nachweis der Gebrauchstauglichkeit nach EN 1191 erbracht. Angesichts des hohen Automatisierungsgrades der Lüftung, musste mit höheren Öffnungs- und Schließzyklen kalkuliert werden. „Wir haben deshalb die Dauerfunktionsprüfung modifiziert und auf eine erhöhte Zyklenzahl geprüft. Dabei wurde durch uns festgestellt, dass minimale Lageänderungen am Fenster keinen großen Einfluss auf die Lebensdauer der Fensterkonstruktion haben. Dies haben wir mit einem Abminderungsfaktor berücksichtigt“, führt Zannini aus. Der Test wurde von Waagner-Biro begleitet, wobei sich die Mitarbeiter vom Versuchsaufbau und dem Fortschritt der Prüfung bei einem Termin in Ditzingen überzeugen konnten. „Nachdem die Profile gepresst waren und wir den ersten Prototypen produziert hatten, wurde beim Lohnfertiger in Ungarn vor Start der Serienfertigung ein Musteranschlag ausgeführt.“ Zu diesem Zweck ist Zannini nach Ungarn gereist. Der Hersteller GU lieferte dem Fensterbauer insgesamt 150 Beschläge und 600 Antriebe. Das Auftragsvolumen für den Beschlaghersteller betrug ca. 250.000 Euro.

Die Technik der Fensterelemente

Jedes der 150 Fensterelemente erhielt aufgrund der Konstruktion und Flügelgeometrie vier spezielle Parallel-Ausstellscheren sowie vier verdeckt liegende Kettenantriebe mit jeweils 300 N Zug und Druckkraft. Alle Fenster können durch die Quattro Kettenantriebe stufenlos motorisch geöffnet und geschlossen werden. Zur Synchronisierung der vier Antriebe in jedem Fenster müssen die Motoren mindestens acht Sekunden in eine Laufrichtung betätigt werden. Aufgrund des Lüftungskonzeptes über eine Vielzahl von Sensoren ist ein manuelles Lüften durch den Nutzer ausgeschlossen.
Die Öffnungsweiten sind je nach Flügelformat unterschiedlich ausgefallen, die kleinste Schere gibt die minimale Öffnungsweite von 180 mm vor, die maximale Öffnungsweite beträgt bei den größten Fensterelementen bis zu 355 mm. Zannini erläutert: „Die Geometrien und die nach innen und außen geneigte Fassade wirken als zusätzliche Belastung auf die Scheren. Durch die schräg stehenden und parallelogrammartigen Elemente treten zusätzliche Querkräfte auf, welche auf die vertikalen Scheren wirken.“ Diese Kräfte werden mittels zusätzlicher horizontal angebrachter Kontrollscheren abgefangen und abgeleitet. Damit ist sichergestellt, dass der Flügel parallel und gleichmäßig abgestellt werden kann und keine negativen Lasten Beschlag oder Antriebe blockieren. „Im Erdgeschoss wurden die Fenster zusätzlich mit einer Quetschkantenüberwachung durch Kontaktleisten ausgestattet. Die Fenster entsprechen den Bedingungen für Fingerschutz nach der Schutzklasse vier“, so Römer.

Effiziente Montageabläufe

Eine Entlastung für die Monteure waren z.B. optimierte Anschraubpunkte, dank derer sich die Einnietmuttern schneller setzen ließen. Eine weitere Einbauhilfe war die Dichtungsaufnahmezone im Rahmenprofil. „Diese wurde mit dem Systemhaus so ausgelegt, dass alternativ die Kontaktleiste für den Fingerschutz befestigt werden konnte“, erklärt Zannini. Leicht einstellbare Beschlagteile sowie sich selbst referenzierende Antriebe erwiesen sich ebenso als vorteilhaft. Die verdeckt eingebaute Anschlussdose war bereits ab Werk soweit verdrahtet, dass auf der Baustelle lediglich die Zuleitung für die Spannungsversorgung und Überwachungskontakte angeklemmt werden musste. Römer von Waagner-Biro ergänzt: „Die Verkabelung galt es, präzise nach Anleitung zu installieren, denn im Nachhinein wäre diese nur noch unter höchst erschwertem Aufwand zugänglich gewesen.“ Auf das Bauvorhaben abgestimmte Einbauzeichnungen erleichterten den Einbau der Beschläge.

Leed Platin zertifiziert

Im Gebäude ermitteln Sensoren im 30-Minuten-Takt den aktuellen Lüftungsbedarf. Dazu werden Parameter wie Wind und Regen gemessen, aber es gibt auch Sensoren für Luftfeuchtigkeit, CO2, Temperatur und für die Anzahl der Personen in den Räumen. Die Ergebnisse werden zentral über ein Gebäudemanagementsystem ausgewertet. Über die Haustechnik wird dann die Klimatisierung automatisiert eingestellt.
Die großen umlaufenden Öffnungsquerschnitte der Parallel-Ausstellfenster sorgen für optimale Lüftungsbedingungen – selbst bei kleinen Öffnungsweiten. „Im Vergleich zum gekippten oder geklappten Fenster erreichen Parallel-Ausstellfenster bei gleicher Öffnungsweite eine weitaus höhere Luftwechselrate“, hebt Zannini hervor. Weiterer Pluspunkt dieser Öffnungsart ist, dass ein geöffneter Flügel keinen Platz im Innenraum beansprucht.
Die natürliche Klimatisierung war ein Baustein, um die Betriebskosten des Gebäudes so niedrig wie möglich zu halten. Des Weiteren wurden erneuerbare Energien für Heizung und Kühlung eingesetzt, beispielsweise erzeugt eine Photovoltaikanlage Strom, und eine Wärmepumpe macht die im Erdboden gespeicherte thermische Energie nutzbar. Außerdem sammelt „The Crystal“ das auf seinen Oberflächen auftreffende Regenwasser, reinigt es und macht es für die Wasserversorgung im Gebäude nutzbar. Das Zusammenspiel dieser Lösungen hat dem Objekt die höchsten Zertifizierungen nach den internationalen Standards für energieeffizientes Bauen – Breeam (Outstanding) und Leed (Platinum) – eingebracht.

Fazit

Trotz aufwändiger Architektur war das Siemensobjekt nach eineinhalb Jahren Bauzeit fertiggestellt. Die gemeinsame Entwicklung der Profilgeometrie von Waagner-Biro, Systemhaus, Beschlaghersteller und ungarischem Metallbauer hat eine optimierte Produktion und Montage der Fenster ermöglicht. „Um die Wünsche des Architekten und Planers umzusetzen und dabei eine prozessoptimierte Profil- und Beschlagtechnik zu entwickeln, war die fortlaufende Kommunikation aller Beteiligten wichtig“, bilanziert Römer. Im Sinne der Qualitätsanforderungen legte er ein Augenmerk auf eine enge Fertigungs- und Qualitätskontrolle.

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