Glas – ein vielfältiger Baustoff

Die Anwendung bestimmt die Glasart

Glas spielt in der Architektur seit vielen Jahren eine Schlüsselrolle. Mit der Weiterentwicklung der Produktions- und Veredelungstechniken erfüllt Glas vielfältige Funktionen. Darüber hinaus haben sich die Montagetechniken weiterentwickelt, sodass immer komplexere architektonische Visionen mit Glas realisiert werden. Michael Elstner, Leiter Beratungscenter & Strategische Kommunikation des AGC Interpane Beratungscenter in Plattling, beschreibt die grundlegenden Glasarten und zeigt deren Anwendungsbereiche auf.

Die Basis vieler industrieller Bauglasprodukte ist meist Floatglas, das im seit 1959 praktizierten Floatglasverfahren hergestellt wird. Floatglas allein wird jedoch, mit seinen charakteristischen Eigenschaften wie Transparenz, weitgehende chemische Beständigkeit, aber auch mit seinen Nachteilen, wie Sprödigkeit und einer relativ geringen Beständigkeit gegenüber schnellen Temperaturwechseln, nicht allen Anforderungen gerecht. Diese Eigenschaften treffen auch auf Ornamentglas zu, das im Gussverfahren hergestellt wird.

Es ist erforderlich, Floatglas in weiteren Stufen zusätzliche Eigenschaften zu verleihen: So wird es, um Sicherheitseigen-schaften zu erhalten, zu Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG) und Verbund-Sicherheitsglas (VSG) weiterverarbeitet.

Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG)

Bei der Herstellung von ESG wird ein, in der Regel zuvor bear-beitetes, Floatglas oder Ornamentglas thermisch vorgespannt. Bei diesem Prozess wird das Glas in einer festgelegten Zeit in einem „Vorspannofen“ gleichmäßig auf circa 620 °C erhitzt und anschließend, durch das Anblasen mit Luft, schnell abgekühlt. Durch diesen definierten Prozess bekommt das Glas seine charakteristische Eigenspannung. Diese besondere Spannungsverteilung verleiht ESG eine deutlich erhöhte Widerstandsfähigkeit gegen mechanische und thermische Belastungen. Es wird deshalb vor allem dort eingesetzt, wo normales Floatglas nicht oder nur bedingt einsetzbar ist oder wo explizit Sicherheitsglas gefordert wird. Zudem kann ESG sowohl mit Funktionsschichten,  z.B. für die Wärmedämmung und den Sonnenschutz als auch mit keramischen Farben (Emaille) ausgeführt werden. Mit der keramischen Farbe werden zum Beispiel Motive auf Glas gedruckt und anschließend beim Vorspannen dauerhaft eingebrannt. So veredelte Gläser sind sehr beständig gegen UV-Strahlung, kratz- und abriebfest. Sie lassen sich zu VSG oder Mehrscheiben-Isolierglas weiterverarbeiten sowie mit Wärmedämm- und Sonnenschutzbeschichtungen kombinieren. Die wesentlichen Eigenschaften von ESG sind die spezielle Bruchstruktur und die gegenüber Floatglas höhere, charakteristische Festigkeitssteigerung sowie Beständigkeit gegen plötzliche Temperaturwechsel.  Wird ESG zerstört, muss es normgerecht in ein engmaschiges Netz von kleinen und stumpfkantigen Krümeln zerfallen, sodass die Verletzungsgefahr minimiert wird – darum wird es bevorzugt zum Beispiel im Schul- oder Kindergartenbau eingesetzt. ESG kann zu heißgelagertem ESG mit „Heat-Soak-Test“ gemäß EN 14179 weiterveredelt werden. Dazu wird es nach dem Vorspannprozess einem Heißlagerungstest unterzogen. In diesem Prozess wird das Risiko des „Spontanbruchs“ im Glas minimiert. Sogenannte Spontanbrüche durch Nickelsulfid- Einschlüsse geschehen zeitlich verzögert und ohne erkennbare äußere Einwirkung.

In Deutschland darf man heißgelagertes Einscheiben-Sicher-heitsglas nach EN 14179 zwar herstellen und verkaufen, jedoch nicht anwenden: Das Deutsche Institut für Bautechnik schreibt für die Anwendung vor, dass ein ESG den Heißlagerungstest gemäß Bauregelliste (BRL) durchlaufen muss. Der Unterschied liegt unter anderem in den zeitlichen Faktoren beim Aufheizen und der Haltezeit der Gläser im Ofen. Somit muss ein heißgelagertes ESG in Deutschland als „ESG-H“ gekennzeichnet werden. Ein nachträgliches Bearbeiten wie Schneiden, Bohren oder Schleifen ist bei ESG aufgrund der Vorspannung im Glas nicht mehr möglich.

Teilvorgespanntes Glas (TVG)

Ein weiteres Produkt, das im sogenannten „Vorspannprozess“ hergestellt wird, ist Teilvorgespanntes Glas (TVG). Dabei wird das erhitzte Glas jedoch langsamer abgekühlt, als es bei ESG üblich ist. Die Bruchstücke sind bei TVG größer als bei ESG und dem Glasbruch bei Floatglas sehr ähnlich. Daher darf TVG als Einfachglas nicht als Sicherheitsglas eingesetzt werden. Gegenüber Floatglas hat TVG aber eine höhere mechanische Widerstandsfähigkeit sowie Beständigkeit gegen plötzliche Temperaturwechsel.

Verbundsicherheitsglas (VSG)

Verbundglas (VG) und Verbundsicherheitsglas (VSG) muss den Anforderungen der Produktnorm EN 14449 entsprechen. Für die Anwendung als Sicherheitsglas sind in Deutschland auch hier die Anforderungen der BRL zu beachten. Bei der Herstel-lung von VSG werden zwei oder mehr Glasscheiben durch eine oder mehrere reißfeste und zähelastische Folien fest miteinan-der verbunden. Hierzu werden meist Folien aus Polyvinylbutyral (PVB) verwendet, die den Vorgaben der BRL entsprechen. Das heißt, sie müssen hohen Anforderungen an die Reißfestigkeit und die Bruchdehnung genügen.

Bei der Herstellung wird in einem Reinraum mit einer Walzenpresse zunächst ein Vorverbund hergestellt. Anschließend wird in einem sogenannten „Autoklaven“ unter Temperatur und Druck ein dauerhafter Verbund von Glas und Folie geschaffen. Ein Autoklav funktioniert gewissermaßen wie ein Schnellkoch-topf: Es ist ein gasdicht verschlossener Behälter, der bei Überdruck und dem Einsatz von Wärme ein „Verschmelzen“ der Scheiben mit der Folie ermöglicht.

Verbundsicherheitsglas bindet im Zerstörungsfall Splitter, die an der Folie haften bleiben. Die Folien selbst sind so strapazierfähig, dass das Durchdringen des Glasverbundes erheblich erschwert wird. Für optimalen Schutz sollten deshalb nur Verbundsicherheitsgläser ab einer Mindestdicke von 8,38 mm verwendet werden (PVB 0,38 mm und 2 x 4 mm Float, TVG oder ESG oder, besser noch, mit einer Foliendicke von 0,76 mm). Beim Einsatz als Überkopfverglasung darf eine Foliendicke von 0,76 mm nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen unterschritten werden. So wird die Verletzungsgefahr durch scharfkantige Glassplitter minimiert und gleichzeitig die aktive Sicherheit deutlich erhöht, zum Beispiel für Anwendungen in stark frequentierten Bereichen wie Schulen, oder wenn Einbruchschutz gefordert ist.

Der wohl größte Vorzug von VSG aus Floatglas oder TVG gegenüber VSG aus ESG ist seine Resttragfähigkeit, beziehungsweise Reststandsicherheit: Zerbricht ESG, zerfällt es in kleinste Glaskrümel – die Scheibe fällt in sich zusammen, sodass keinerlei Reststandsicherheit beziehungsweise kein Raumabschluss mehr besteht. Bei VSG bleibt die Schutzwirkung hingegen selbst nach Teilzerstörung noch weitgehend erhalten, zumindest für einen unbestimmten bzw. bei Prüfungen zuvor definierten Zeitraum. VSG wird in Brüstungen eingesetzt, als absturzsichernde Verglasung, in Überkopfverglasungen, als Monoverglasung oder als untere Scheibe bei Mehrscheibe-Isolierglas (MIG) in Atrien oder Wintergärten. Es kann neben Sicherheitsfunktionen auch eine schalldämmende Wirkung aufweisen, wenn anstelle der „normalen“ PVB-Folien eine sogenannte „Schalldämmfolie“ verwendet wird. VSG-Scheiben können Durchwurf- oder Durchbruchhemmung gewährleisten, bis hin zur Durchschuss- oder auch Explosionshemmung. Diese Eigenschaften werden durch Prüfzeugnisse auf Basis der entsprechenden Norm nachgewiesen. Die Ausführung ist auch mit anderen Zwischenlagen möglich, die eine höhere Resttragfähigkeit, Reststandsicherheit und verbesserte Kantenstabilität als VSG mit PVB-Folien aufweisen. Gegebenenfalls kann der Einsatz dieser Zwischenlagen durch die höhere Verbundwirkung auch einen positiven Einfluss auf die Glasdicken haben. Dieses Glas erfüllt unter Umständen sogar die Anforderungen an eine Hurrikan-Verglasung. Daneben gibt es Folien, mit denen sich auch die lichttechnischen und strahlungsphysikalischen Eigenschaften verändern lassen, etwa um die Lichttransmission in bestimmten Wellenlängen zu reduzieren. Auch die Gestaltung mit Folien in zahlreichen Farben ist möglich. Im Gegensatz zu monolithischem ESG und TVG, das vor dem Vorspannprozess bearbeitet wird, ist bei VSG aus Floatglas die nachträgliche Bearbeitung möglich – zum Beispiel das Schleifen oder das Polieren der Kante, auch Gehrungskanten, Bohrungen oder Ausschnitte sind ausführbar. Wenn allerdings VSG aus TVG/ESG gefordert wird, gelten die Regeln von ESG und TVG, und die Gläser sind vor der Weiterveredelung zu bearbeiten.

Die Tabelle [1] zeigt, dass es neben der „klassischen“ PVB-Folie inzwischen eine ganze Reihe weiterer Folien gibt, die die Eigenschaften des Glasproduktes verändern können und bestimmte Anwendungen ermöglichen. Daneben werden auch besondere Merkmale genannt, die bei den unterschiedlichen Typen bei der Anwendung beachtet werden müssen.

Um in der jeweiligen Anwendung die korrekte Glasart einzusetzen, müssen die in den Technischen Baubestimmungen aufgeführten Normen und Regelwerke beachtet werden. So wird derzeit in den Bundesländern die DIN 18008 bauordnungsrechtlich umgesetzt. Damit verbunden ist ein neues Nachweiskonzept bei der Festlegung der erforderlichen Glasarten und Glasdicken. Tabelle [2] gibt einen kurzen Überblick, welche Glasart bei der jeweiligen Anwendung, in Bezug auf die in Deutschland zu beachtenden Regelwerke, zu verwenden ist.

Bei der Auswahl der Glasart sind deren grundsätzliche Eigen-schaften von großer Bedeutung. Tabelle [3] zeigt einen Über-blick über die wesentlichen Eigenschaften der verschiedenen Glasarten.

Im Einsatz als Mehrscheiben-Isolierglas (MIG) können diese Glasarten weitere Funktionen übernehmen. Dazu werden diese zum Zweck der Gestaltung bedruckt, mit farbigen Folien im VSG versehen oder mit Funktionsschichten für Sonnenschutz und Wärmedämmung beschichtet. Der Einsatz von MIG in einer Vielzahl von Anwendungen wurde durch die Einführung der Wärmeschutzverordnung am 1. November 1977 weitestgehend erforderlich, da hier erstmalig die Wärmeverluste, unter anderem über die Gebäudehülle, begrenzt werden müssen. Mit der Fortschreibung der Wärmeschutzverordnung und der Verschärfung der Anforderungen an den Wärmedurchlasskoeffizienten (früher KV-Wert und heute Ug-Wert) durch die 3. WSVo wurde der Einsatz von niedrig emittierenden (sogenannten „Low E“-Schichten) mehr oder weniger verpflichtend, um die Anforderungen an die Wärmedämmung erfüllen zu können. Mit der Einführung der Energieeinsparverordnung und der Fortschreibung und Erhöhung der Anforderungen an den maximal zulässigen Transmissionswärmeverlust sowie die Bauteilanforderungen beim Austausch einzelner Bauteile (unter anderem Glas und Fenster/Fenstertüren) wurde der Einsatz von Dreifach-MIG erforderlich.

Was ist nun aber MIG?

Mehrscheiben-Isolierglas besteht aus zwei oder mehreren Glasscheiben, die durch einen oder mehrere getrocknete und hermetisch abgeschlossene Scheibenzwischenräume (SZR) voneinander getrennt sind. Zu diesem Zweck werden die Glasscheiben mit einem oder mehreren Abstandhalterprofilen aus Aluminium, Edelstahl oder Kunststoff-Metall-Kombinationen auf den gewünschten Abstand gebracht. Der Isolierglas-Randverbund besteht grundsätzlich aus einer zweistufigen Dichtung:

  • Eine auf die Seitenflächen jedes Abstandhalters rundum aufextrudierte Polyisobutylenschnur (PIB) als Primärdichtung. Sie dient als Wasserdampf- und Gasdiffusionssperre und hat damit vornehmlich die Aufgabe, die Einheit vor dem Eindringen von Luftfeuchtigkeit und dem Entweichen von Füllgas zu schützen.
  • Ein Sekundär-Dichtstoffauftrag (z. B. Polysulfid, Polyurethan, Silikon) entsprechend der Systembeschreibung.

Die Sekundärdichtung hat zwei Aufgaben zu erfüllen:

  • Das dauerhafte Verbinden der Scheiben, indem der Dicht-stoff eine chemische Bindung mit den Glasoberflächen am Scheibenrand eingeht.
  • „Luft- beziehungsweise gasdichtes“ Verschließen der Einheit, das heißt, der Dichtstoff hat zugleich die Aufgabe, den SZR hermetisch abzudichten.

Dieser dauerelastische Verbund nimmt die Beanspruchungen aus Pump-, Sog-, Druck-, Scher- und Temperaturbewegungen auf. Durch die Füllung des Hohlraumes der perforierten Ab-standhalterprofile mit Trockenmittel wird das Gas im SZR ge-trocknet. Das Trockenmittel hat weiterhin die Aufgabe, den während der Lebensdauer der MIG-Einheit im Randbereich eindiffundierenden Wasserdampf zu adsorbieren. Der SZR wird je nach Produkt mit Umgebungsluft oder Edelgasen (Argon oder Krypton) befüllt und kann Einbauten, zum Beispiel Sprossen, enthalten. Entsprechend vorstehender Beschreibung können folgende Produktfamilien hergestellt werden:

  • Wärmedämmglas
  • Sonnenschutzglas
  • Schallschutzglas
  • Sicherheitsglas

Die Produkte dieser Produktfamilien werden in Übereinstimmung mit der Systembeschreibung nach EN 1279 gefertigt. Daneben erfüllt eine große Anzahl von Herstellern von MIG auch die Anforderungen der RAL-Gütegemeinschaft Mehrscheiben-Isolierglas. Damit verbunden ist unter anderem eine regelmäßige Fremdüberwachung der Produktion sowie der Vor-produkte von MIG.

Ausblick

Immer häufiger werden übergroße Verglasungen für besondere architektonische Visionen nachgefragt, mit denen ganze Stockwerke rahmenlos verglast werden können. AGC Interpane kann beispielsweise – auf Anfrage – hochwertige Beschichtungen bis zu Abmessungen von 3.210 mm x 18.000 mm liefern. Diese Produkte nennen wir „Giga Lites“. Grundsätzlich gilt: Mit der richtigen Auswahl der Produkte sind der Anwendung von Glas kaum Grenzen gesetzt. Gestalten Sie mit Glas!

x

Thematisch passende Artikel:

Ausgabe 03/2011 DIN 18008-2 wird die TRLV ersetzen

Glasdicke nach DIN (3)

In der dritten und letzten Folge seines Beitrages zur neuen DIN 18008 „Glas im Bauwesen – Bemessungs- und Konstruktionsregeln“ beschäftigt sich unser Fachautor mit Teil 2 der Norm „Linienförmig...

mehr
Ausgabe 7-8/2021 Normen

Metall-Glas-Konstruktionen

Von Absturzsicherung bis zulässige Glasprodukte

Absturzsicherung Frage: In Tabelle B.1 der DIN 18008-4 sind viele absturzsichernde Verglasungen aufgeführt. Sind diese ohne weiteren Nachweis verwendbar? Antwort: Nein. Nach Abschnitt 6.1 der Norm...

mehr
Ausgabe 04/2013 Fassade mit 700 gebogenen Gläsern

SG-Fassade am Fraunhofer-Institut

Die Fraunhofer-Gesellschaft in München errichtet derzeit in Würzburg ein neues Labor- und Technikumsgebäude für das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung nach einem Entwurf des...

mehr
Ausgabe 05/2012 Neues zur Absturzsicherung im Fokus

Glasdicke zukünftig nach DIN (5)

Mit dem Teil 4 zu absturzsichernden Verglasungen begegnen uns in weiten Bereichen der neuen Norm die Inhalte der zuvor hierfür bestehenden und durchaus bewährten bauaufsichtlichen Technischen Regeln...

mehr
Ausgabe 5/2015

Regeln für Glasanwendungen (3)

Deutschland, Schweiz, Österreich und Italien

In Deutschland muss für betret- und begehbare Verglasungen bei Einfachglas und für die untere Scheibe von Isolierglas VSG aus Floatglas oder TVG verwendet werden. Die TRLV regelt nur Verglasungen...

mehr